Berichte

Premieren im Parallel-Universum

Man muss kein Astronaut sein, um eine andere Welt zu entdecken. Man benötigt kein Raumschiff, um in andere Galaxien vorzudringen. Man muss nur beim weltweit größten Orientierungslauf-Staffelwettkampf in Finnland dabei sein, und schon ist man auf einem anderen Planeten. Jannis & Nico mischten bei der Jukola 2024 in der Nacht von 15. auf 16.- Juni 2024 mit und sich ins Bild. Und das auch noch erfolgreich.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Es ist 22 Uhr 45 in Kauhava, irgendwo in Finnland. Noch drei Minuten bis zum Wahnsinn. 400 Kilometer nördlich von Helsinki ist der Tag noch nicht zu Ende. Die wenigen Wolken am immer noch blauen Himmel leuchten jeden Augenblick in einer neuen Dämmerungsfarbe. Während die Sonne untergeht, steigt die Pulsfrequenz. Noch zwei Minuten. Mehr als 1.600 Startläufer sammeln und drängen sich hinter der Startlinie, überprüfen noch einmal ihre Stirnlampen. Noch eine Minute. Angespannt sind auch die Männer in den historischen karelischen Soldaten-Uniformen: „Man weiß nie genau, wie gut die Zündung funktioniert, wenn man mit Schwarzpulver hantiert“.  Rumms. Ein Schuss aus einer 300 Jahre alten Kanone löst eine Welle aus.

Foto: M. Gustafsson @woasfoto (im Bild: #10, Nico)

Auch Nico, der Startläufer von OK Pan Kristianstad wird mitgerissen. Ist erstmals Teil dieser leuchtenden Riesenschlange. 1600 Körper werden zu einem. Bewegen sich mit- und doch gegeneinander dem Wald entgegen. Es ist faszinierend und beängstigend zugleich. „Auf den ersten Metern schaust du nur, dass du auf den Beinen bleibst und nicht stürzt“. Alle wollen nach vorne. Es gibt sofort harte Positionskämpfe. Schnell kommt Nico in den Flow, kann gut mitlesen und hat immer Sichtkontakt zu den ersten Läufern, die dieselben Gabeln haben wie er.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Nach 7 Kilometern folgt ein langer bergab-Posten, plötzlich ist Nico der erste seiner Gabel und kommt als insgesamt 2. zu dieser TV-Zwischenzeit: „das war schon ein sehr cooles Gefühl“. Danach kann er mit ein paar anderen das Rennen „von vorne kontrollieren“. Am Ende wird es – auch aufgrund längerer Laufstrecken – brutal schnell: „Trotz Krämpfen in den Waden bin ich ganz gut mitgekommen. Vor allem o-technisch war ich wirklich gut unterwegs.“  Nach knapp 14 Kilometern kommt Nico mit nur 58 Sekunden Rückstand auf die Spitze ins Ziel und ist „sehr zufrieden“ mit seinem Debut als Jukola-Startläufer.     

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Wer die Jukola veranstaltet, muss groß denken. Schließlich kommen hier über 17.000 Läuferinnen und Läufer aus aller Welt zusammen. Mit Anhang. Also setzt man nicht nur 540 Posten ins Gelände, sondern gönnt sich auch den Flugplatz von Kauhava mit seiner Start- und Landebahn als Wettkampfzentrum. Nach wochenlanger Vorarbeit ist hier eine Zelt(Groß)stadt entstanden. Zum Schlafen & Umziehen. Zum Duschen & Saunieren. Zum Essen & Trinken. Zum Einkaufen. Auf dem „Stadtplatz“ nahe der Übergabezone sorgt eine Riesenleinwand für Open Air- und All-Night-Kino-Atmosphäre. Der komplette Spaß wird 13 Stunden lang LIVE im TV übertragen.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Die Musik in den letzten Minuten vor dem Start passt zur Flughafen-Umgebung: „Highway to the danger zone“ aus dem Film „Top Gun“. Es ist wie bei einem Festival und doch anders: die Bühne ist der Wald und die sportlichen Bands spielen die ganze kurze Nacht.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Denn nach 5 Stunden, als Jannis für OK Linné Uppsala die 5. Strecke über knapp 10 Kilometer läuft, wird es schon wieder hell. Die große Vorfreude auf seine Jukola-Premiere nimmt der 24-jährige mit in den Wald, der im Sonnenaufgang leuchtet wie die Augen von Jannis: „die ersten Posten waren in einem traumhaft schönen Gelände anzulaufen, ich hatte einen guten Plan und konnte die Nervosität rasch abschütteln.“  DasTeam von OK Linné Uppsala ist mit hohen Ambitionen unterwegs: „Die Staffel von Stora Tuna Borlänge wollten wir endlich vom Thron stoßen“. Jannis hat als 2. übernommen, seine Bahn ist mit vielen kurzen Posten fast wie eine Mitteldistanz gelegt und technisch sehr fordernd. Trotz ein paar kleiner Fehler im Postenraum ist Jannis der viertschnellste auf seiner Strecke und übergibt als 2. an seinen Teamkollegen. Titelverteidiger Stora Tuna Borlänge kann nach einer Laufzeit von 8 Stunden den Vorjahressieg wiederholen, OK Linné Uppsala behält den großartigen 2. Platz bis ins Ziel.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Bei der Venla, der „weiblichen Variante“ der Jukola ist in einem der mehr als 1.400 Teams mit je 4 Läuferinnen auch Lina dabei. Sie läuft erstmals die Startstrecke am Samstag-Nachmittag und erlebt „diese unglaubliche Atmosphäre“ für den finnischen Klub Paimion Rasti : „Im Wald war es echt schwer mit so vielen Läuferinnen irgendwie vorwärts zu kommen„. Lina übergibt auf Platz 202, bis ins Ziel arbeitet sich ihre Staffel nach viereinhalb Stunden auf den 160. Platz nach vorne. Ganz vorne lautet das Motto „wie die Herren, so die Damen“, denn das Quartett von Stora Tuna mit Tove Alexandersson gewinnt die Venla.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto

Bei den Herren wird das Team von OK Pan Kristianstad mit Nico wird für den 20. Platz und die gute Teamleistung auch mit einem Auftritt bei der Siegerehrung belohnt. Die besten 25 Mannschaften werden geehrt, während das Rennen noch lange nicht zu Ende ist. Die letzte Staffel kommt mehr als 25 Stunden nach den Siegern ins Ziel.  

Genauso lange könnten unsere beiden Eliteläufer noch qber dieses Erlebnis, diese Emotionen und diesen besonderen Tag, der eine Nacht ist, schwärmen. Man kann diese Reise ins OL-Paralleluniversum – so wie Nico – aber auch in fünf klaren Worten zusammenfassen: „Das war schon sehr geil“. Oder überhaupt nur mit einem Wort: „Jukola!“.

Foto: Moa Gustafsson @woasfoto